Ihr bleibt vereint, wenn die weißen Flügel des Todes eure Tage scheiden. Wahrlich, ihr bleibt vereint selbst im Schweigen von Gottes Gedenken. Doch lasset Raum zwischen eurem Beieinandersein, Und lasset Wind und Himmel tanzen zwischen euch. Liebet einander, doch macht die Liebe nicht zur Fessel: Schaffet eher daraus ein webendes Meer zwischen den Ufern eurer Seelen.Füllet einander den Kelch, doch trinket nicht aus einem Kelche. Gebt einander von eurem Brote, doch esset nicht vom gleichen Laibe. Singet und tanzet zusammen und seid fröhlich, doch lasset jeden von euch allein sein.Gleich wie die Saiten einer Laute allein sind, erbeben sie auch von derselben Musik. Gebet einander eure Herzen, doch nicht in des andern Verwahr. Denn nur die Hand des Lebens vermag eure Herzen zu fassen. Und stehet beieinander, doch nicht zu nahe beieinander: Denn die Säulen des Tempels stehen einzeln, und Eichbaum und Zypresse wachsen nicht im gegenseitigen Schatten.
Mein Freundverhalte dich nicht wie jener,der an der Feuerstelle sitzt,das Feuer erlöschen sieht und dannvergebens in die kalte Asche bläst.Gib die Hoffnung nie auf,und verharre nicht in Verzweiflungüber das, was vergangen ist,denn das Unwiederbringlichezu beweisen ist die schlimmsteder menschlichen Schwächen.
"Meister, wie verhält es sich mitder Zeit?"Und er antwortete:"Ihr möchtet die Zeit messen, die dochohne Maß ist und unermeßlich.Ihr möchtet euer Handeln und selbstden Lauf eures Geistes nach Stundenund Jahreszeiten ordnen.Aus der Zeit möchtet ihr einen Flußmachen, von dessen Ufer aus ihr, in Muße,dessen Strömen betrachten könnt.Doch das Zeitlose in euch ist sich derZeitlosigkeit des Lebens bewußt.Und wer weiß, dass das Gestern nichtsals die Erinnerung des Heute und dasMorgen das, was das Heute erträumt.Und was in euch singt und gewahrt,wohnt nach wie vor in den Grenzen jenesersten Moments, der die Sterne imWeltraum verstreute.Wer von euch spürt etwa nicht, daßseine Fähigkeit zu lieben unbegrenzt ist?Und dennoch, wer empfindet nicht, daßeben diese Liebe, wenn auch unbegrenzt,doch restlos im Zentrum seines Wesensenthalten ist und sich nicht von Liebes-gedanken zu Liebesgedanken bewegt - nochvon Liebeshandlung zu Liebeshandlung?Und ist etwa Zeit nicht ganz so wie dieLiebe - ungeteilt und raumlos?Aber - wenn ihr schon die Zeit inGedanken nach Jahreszeiten bemessenmüßt, dann möge jede einzelne Jahres-zeit alle übrigen Jahreszeiten umfasssen.Und - das Heute umarme das Vergangenemit Erinnern und das Künftige mitSehnsucht!"
Ich bin der Führer der Liebe,Ich bin der Wein des Geistes,Ich bin die Nahrung des Herzens.Ich bin eine Rose;Und öffne mein Herz, wenn der Tag anbricht;ein Mädchen pflückt mich und küßt michund drückt mich an ihre Brust.Ich bin die Wohnstatt des GlücksUnd die Quelle der Freude.Ich bin der Anfang der Ruhe.Ich bin ein sanftes Lächeln auf einerJungfrau Lippen;Ein Jüngling erblickt mich, und seine Mühist vergessen, sein Leben wirdeine Bühne lieblicher Träume.Ich bin die Vorstellungskraft eines DichtersUnd der Führer des Künstlers.Ich bin der Lehrer des KomponistenUnd ich bin der Blick im Auge des Kindes,Von einer Mutter zärtlich angeschaut.Sie betet davor und rühmt Gott.In der Gestalt der Eva trat ich einst vor Adam hinUnd machte ihn zum Sklaven.Enthüllte mich dem Salomo im Bild seiner Geliebten;so wurde er zum Dichter und Gelehrten.Ich lächelte der Helena zu,Und Troja ward zerstört.Ich krönte auch Kleopatra, und Friede herrscht am Nil.Ich bin wie das Schicksal;Was ich heute baue,Reiß ich morgen ein.Ich bin wie Gott,Ich gebe Leben und bereite Tod.Ich bin leichter als der Seufzer eines VeilchensUnd mächtiger als der Sturm.Ich bin eine Wahrheit, ihr Menschen, ja, eine Wahrheit.
Da sprach Almitra: „Rede uns von der Liebe.“Und er erhob das Haupt und blickte auf die Menge.Und es fiel ein Schweigen über sie. Und die große Stimme sprach also:„Winkt dir die Liebe, so folge ihr,sind auch ihre Wege hart und steil.Und umfahn dich ihre Flügel, so ergib dich ihr,mag auch das unterm Gefieder verborgne Schwert dich verwunden.Und redet sie mit dir, so trau ihrem Wort,mag auch ihre Stimme deine Träume erschüttern,wie der Nordwind den Garten verwüstet.Denn gleich wie die Liebe dich krönt, so wird sie dich kreuzigen,wie sie deinen Lebensbaum entfaltet, so wird sie ihn beschneiden.Wie sie emporsteigt zu deiner Höheund die zartesten Zweige liebkost, die in der Sonne erbeben,ebenso wird sie hinabsteigen zu deinen Wurzelnund sie aufrütteln in ihrem Festklammern am Erdboden.Gleich Garben von Korn rafft sie dich an sich.Sie drischt dich, um dich zu entblößen.Sie siebt dich, um dich von Spreu zu befrein.Sie zermalmt dich, bis du weiß wirst,sie knetet dich, bis du geschmeidig bist.Und dann beruft sie dich an ihr heil‘ges Feuer,auf daß du heil´ges Brot werdest zu Gottes heil´gem Festmahl.All dies soll die Liebe dir antun, auf daß du kennest das Geheime deines Herzens und in diesem Wissen ein Bruchteil werdest vom Herzen des Lebens.Doch suchest du in deiner Angst nur der Liebe Ruh‘ und der Liebe Lust,dann tätest du besser, deine Nacktheit zu verhüllenund der Liebe Tenne zu entfliehn,in die schale Welt, wo du wirst lachen,doch nicht ein ganzes Leben, und weinen,doch nicht all deine Tränen.Liebe gibt nichts als sich selber und nimmt nichts aus sich selbst heraus.Liebe besitzet nicht und läßt sich nicht besitzen;denn Liebe genügt der Liebe.Wenn du liebst, so sage nicht: „Gott in meinem Herzen“,sag‘ lieber: „Ich bin in Gottes Herzen.“Und denke nicht, du könntest der Liebe Lauf lenken;denn Liebe, so sie dich würdig schätzt, lenkt deinen Lauf.Liebe hat keinen anderen Wunsch, als sich zu erfüllen.Doch so du liebst und noch Wünsche haben mußt,so seien dies deine Wünsche:Zu schmelzen und zu werden wie ein fließender Bach,der sein Lied der Nacht singt.Zu kennen die Pein allzu vieler Zärtlichkeit.Wund zu sein von deinem eigenen Verstehen der Liebe;und zu bluten, willig und freudigen Herzens.Zu erwachen beim Morgenrot mit beschwingter Seeleund Dank zu bringen für einen neuen Tag der Liebe,zu rasten um die Mittagsstund‘und nachzusinnen über der Liebe Verzückung;Heimzukehren in Dankbarkeit, wenn der Abend graut;und dann einzuschlafen, mit einem Gebet für deine Liebeim Herzen und einem Lobgesang auf deinen Lippen.
Ich tadelte meine Seele siebenmal.Das erste Mal, als sie versuchte, mich auf Kosten der Schwachen zu erhöhen.Das zweite Mal, als ich vor Verkrüppeltenzu hinken vorgab.Das dritte Mal, als ich, vor die Wahl gestellt,das Leichte dem Schweren vorzog.Das vierte Mal, als ich einen Fehler begingund mich mit den Fehlern der anderen tröstete.Das fünfte Mal, als ich, aus Furcht gefügig geworden,behauptete, groß in der Geduld zu sein.Das sechste Mal, als ich meine Kleider hob,um dem Schmutz des Lebens zu entgehen.Das siebte mal, als ich Gott mit Hymnen priesund meinen Gesang für Tugend hielt.
In der Tiefe meines Geistes gibt es ein Lied,das Worte nicht fassen können;Ein Lied, das aus einem Samen meines Herzenswächst und nicht als Tinte fließt auf das Papier.Mit einem lichten Mantel umschließt es mein Gefühl,Zergeht auf meiner Zunge nicht wie Speichel.Wie soll ich es entlassen, wenn nicht als einen Seufzer,Wobei ich fürchte, daß es sich in Luft auflöst?Wem werde ich dieses Lied singen, das keinen Wohnort kennt?Als meinen Geist?Ich bange drum, der Menschen Ohren sind so hart.
heißt, weise sein, wenn auch vertraut mit der Torheit;heißt, stark sein, aber nicht zum Schaden des Schwachen; heißt, mit den Kindern spielen, aber nicht als ihre Väter, sondern als ihre Kameraden, die ihre Spiele lernen wollen;heißt, einfach und offen sein mit den Alten und mit ihnen im Schatten betagter Eichen sitzen, auch wenn ihr noch im Frühling steht;heißt, einen Dichter suchen, auch wenn er hinter sieben Flüssen wohnt, und in seiner Gegenwart Frieden empfinden, nichts wollen, ohne Zweifel sein und ohne Frage auf den Lippen;heißt, wissen, daß der Heilige und der Sündige Zwillingsbrüder sind, deren Vater unser Barmherziger König ist, und daß der eine nur kurz vor dem anderen geboren wurde, weshalb wir ihn als Kronprinzen betrachten;heißt, der Schönheit folgen, auch wenn sie zum Rande des Abgrunds führt; und wenn sie Flügel hat, ihr aber ohne Flügel seid, ihr folgen, auch wenn sie über den Abgrund geht, denn wo keine Schönheit ist, da gibt es nichts;heißt, ein Garten sein ohne Mauern, ein Weinberg ohne Wächter, eine Schatzkammer, immer offen stehend für Besucher;heißt, ausgeraubt, betrogen, enttäuscht, ja sogar irregeführt, in die Falle geraten und dann verspottet sein, trotz alledem aber herabblicken von der Höhe eures größeren Selbst und lächeln im Bewußtsein, daß es einen Frühling gibt, der in euren Garten kommt, um in euren Blättern zu tanzen, und einen Herbst, der eure Trauben reifen lässt;heißt, wissen, daß ihr nur ein Fenster nach Osten öffnen müßt, um niemals allein zu sein, und wissen, daß alle, die für Übeltäter und Räuber gehalten werden, eure Brüder sind, die ihr braucht, und daß ihr selbst all das seid in den Augen der seligen Bewohner der Unsichtbaren Stadt jenseits von uns.
Niemand kann euch etwas eröffnen, das nicht schon im Dämmerneures Wissens schlummert. Der Lehrer, der zwischen seinen Jüngern im Schatten des Tempels umhergeht, gibt nicht von seiner Weisheit, sondern eher von seinem Glauben und seiner Liebe. Wenn er wirklich weise ist, fordert er euch nicht auf, ins Haus seiner Weisheit einzutreten, sondern führt euch an die Schwelle eures eigenen Geistes.