Gedichte von Friedrich Rückert

Friedrich Rückert

Friedrich Rückert

deutscher Dichter und Übersetzer, Orientalist
* 16.5. 1788 - Schweinfurt
31.1. 1866 - Coburg

Chidher, der ewig junge, sprach:
Ich fuhr an einer Stadt vorbei,
Ein Mann im Garten Früchte brach;
Ich fragte, seit wann die Stadt hier sei?
Er sprach, und pflückte die Früchte fort:
"Die Stadt steht ewig an diesem Ort,
Und wird so stehen ewig fort."
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich keine Spur der Stadt;
Ein einsamer Schäfer blies die Schalmei,
Die Herde weidete Laub und Blatt;
Ich fragte: "Wie lange ist die Stadt vorbei?"
Er sprach, und blies auf dem Rohre fort:
"Das eine wächst, wenn das Andre dorrt;
Das ist mein ewiger Weideort." –
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug,
Ein Schiffer warf die Netze frei;
Und als er ruhte vom schweren Zug,
Fragt´ ich, seit wann das Meer hier sei?
Er sprach, und lachte meinem Wort:
"So lang als schäumen die Wellen dort,
Fischt man und fischt man in diesem Port." –
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich einen waldigen Raum,
Und einen Mann in der Siedelei,
Er fällte mit der Axt den Baum;
Ich fragte, wie alt der Wald hier sei?
Er sprach:" Der Wald ist ein ewiger Hort;
Schon ewig wohn´ ich an diesem Ort,
Und ewig wachsen die Bäum´ hier fort." –
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich eine Stadt, und laut
Erschallte der Markt vom Volksgeschrei.
Ich fragte: Seit wann ist die Stadt erbaut?
Wohin ist Wald und Meer und Schalmei?
Sie schrien, und hörten nicht mein Wort:
"So ging es ewig an diesem Ort,
Und wird so gehen ewig fort." –
Und aber nach fünfhundert Jahren
Will ich desselbigen Weges fahren.

Gedichte von Friedrich Rückert (Seite 4)
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