"Meister, wie verhält es sich mit
der Zeit?"

Und er antwortete:

"Ihr möchtet die Zeit messen, die doch
ohne Maß ist und unermeßlich.

Ihr möchtet euer Handeln und selbst
den Lauf eures Geistes nach Stunden
und Jahreszeiten ordnen.

Aus der Zeit möchtet ihr einen Fluß
machen, von dessen Ufer aus ihr, in Muße,
dessen Strömen betrachten könnt.

Doch das Zeitlose in euch ist sich der
Zeitlosigkeit des Lebens bewußt.

Und wer weiß, dass das Gestern nichts
als die Erinnerung des Heute und das
Morgen das, was das Heute erträumt.

Und was in euch singt und gewahrt,
wohnt nach wie vor in den Grenzen jenes
ersten Moments, der die Sterne im
Weltraum verstreute.

Wer von euch spürt etwa nicht, daß
seine Fähigkeit zu lieben unbegrenzt ist?

Und dennoch, wer empfindet nicht, daß
eben diese Liebe, wenn auch unbegrenzt,
doch restlos im Zentrum seines Wesens
enthalten ist und sich nicht von Liebes-
gedanken zu Liebesgedanken bewegt - noch
von Liebeshandlung zu Liebeshandlung?

Und ist etwa Zeit nicht ganz so wie die
Liebe - ungeteilt und raumlos?

Aber - wenn ihr schon die Zeit in
Gedanken nach Jahreszeiten bemessen
müßt, dann möge jede einzelne Jahres-
zeit alle übrigen Jahreszeiten umfasssen.

Und - das Heute umarme das Vergangene
mit Erinnern und das Künftige mit
Sehnsucht!"

Khalil Gibran

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amerikanisch-libanesischer Maler und Philosoph, Dichter
* 6.1. 1883 - DMG Ǧibrān Ḫalīl Ǧibrān in Bischarri, Libanon
10.4. 1931 - New York , USA
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